Die jüngste Herausforderung für Neuschloß ist politischer Natur. Kurz vor den Kommunalwahlen im Jahr 2016 zeigt sich: Auf der Kandidatenliste der CDU stehen keine gültigen, auf der Liste der FDP überraschend wenig Leute. Unterm Strich treten weniger Bewerberinnen und Bewerber an, als es Mandate gibt. Folge: Die Wahl des Ortsbeirats fällt aus.
Gemeinsam mit dem Lampertheimer Stadtteil Rosengarten, der das gleiche Problem hat, reift in Neuschloß eine Idee: Bürgerschaftliches Engagement jenseits der etablierten politischen Parteien soll dem Stadtteil eine Stimme verleihen. Bürgerkammer nennen die Aktiven das Konzept, das sie gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte entwickeln, der in Duisburg forscht und lehrt und in Worms lebt. Die Idee: 20 Frauen und Männer könnten Neuschlößer Themen in einer regelmäßigen Runde besprechen und aufarbeiten, alle anderen dabei im festgelegten Rahmen direkt mitreden.
Solche Bürgerkammern gibt es bis dahin nur projektbezogen. Dass sie nun, als Ersatz für den fehlenden Ortsbeirat, einen Stadtteil insgesamt vertreten sollen, ist – mal wieder – eine Premiere. Die etablierten Parteien und der als CDU-nah gesehene Bürgermeister Gottfried Störmer brauchen etwas Zeit, um sich mit dieser Idee anzufreunden. Laute Kritik kommt insbesondere von den Grünen, die sich seit Jahren gar nicht für den Neuschlößer Ortsbeirat interessieren.
Die Neuschlößer kämpfen wieder, schreiben engagierte Leserbriefe an die Zeitungen, führen Gespräche hinter den Kulissen. Am Ende klappt es: Es finden sich 20 Leute, die einen guten Querschnitt durch Bevölkerung und Institutionen unseres Stadtteils abbilden; die Stadtspitze erklärt sich bereit, mit der Bürgerkammer zusammenzuarbeiten. Der überwiegende Teil der Aktiven ist bislang nicht im Ortsbeirat politisch aktiv. Die Runde wählt zur Vorsitzenden die frühere Ortsvorsteherin Carola Biehal.
Die Bürgerkammer verpflegt kurz darauf das anfeuernde Publikum am Ahornplatz beim Marathon-Lauf, renoviert am Tag des Ehrenamts den Spielplatz am Alten Lorscher Weg, geht die Dauerprobleme Kanalgeruch und Busverkehr an – und bereitet nicht zuletzt die 550-Jahr-Feier samt einer Festschrift vor.
Bürgerschaftliches Engagement zeigt sich an weiteren Themen. An Halloween wird Neuschloß zur Hochburg, weil sich feste, gruslige Anlaufstationen für die Kinder finden. In der Weihnachtszeit schmücken Neuschlößer Mädchen und Jungen den Tannenbaum am Ahornplatz; der Adventsmarkt schlägt den Lampertheimer Weihnachtsmarkt in Sachen Vielfalt um Längen. Oft steckt hinter diesen Aktionen Stefan Spiesberger von „Kids on Keys“, der Schule für elektronische Tasteninstrumente. Wenn es um Informationen aus dem eigenen Stadtteil geht, informiert seit einigen Jahren das ehrenamtliche Projekt Neuschloss.net im Web und in Facebook aus erster Hand.
Und nicht zu vergessen: Etwas auf die Beine stellen die Neuschlößer nicht nur, wenn es um Spaß geht. Als es auch bei uns gilt, einmal mehr Menschen eine Bleibe zu geben, die aus ihrer zerstörten Heimat fliehen, entsteht eine wundervolle Welle der Hilfsbereitschaft. Sie endet, und das ist das Schöne, nicht bei Sachspenden. Neuschlößerinnen helfen den im Beamtenbau untergebrachten Flüchtlingen ehrenamtlich, die deutsche Sprache zu lernen. Neuschlößer gehen mit den meist jungen Männern zum Fußballspielen in den Wald. Und eine Gruppe um die Bürgerkammervorsitzende Carola Biehal hilft, wenn es um Behördengänge, Arztbesuche oder andere Dinge des Alltags geht, die es zu regeln gilt. Inzwischen ist der Mietvertrag zwischen Schlossbesitzer und Stadt ausgelaufen, die Flüchtlinge, teils weiter im Verfahren, sind anderswo untergekommen.