Von 1829 bis 1927 arbeitet in Neuschloß eine chemische Fabrik – auch sie ist eine Angelegenheit mit weitreichender Bedeutung. Zunächst ist alleine das Ausmaß der Produktionsstätten beachtlich: fast 50.000 Quadratmeter plus 35.000 Quadratmeter Ablagerungsstätte für Produktionsrückstände, der heutige „Sodabuckel“. Das entspricht zusammengenommen einer Fläche von elf Fußballfeldern. Und wichtiger noch: Die Fabrik ist, abgesehen von einem kurzzeitigen Vorläufer in Mannheim-Käfertal, die erste deutsche Sodafabrik überhaupt.
Auch Glaubersalz, Chlor, Kalk, Schwefel- und Salzsäure entstehen dort. Zusätzlich betreibt die Fabrik eine Weißblechentzinnung. Geheizt wird mit Torf aus dem Lampertheimer Gewann „Im Bruch“.
Übrig gebliebene Gebäude der Schlossanlage verwendet die Fabrik mit: den Beamtenbau, den Marstall und eine Scheune. Weitere lang gezogene Bauten entstehen, Türme und bis zu 60 Meter hohe Schornsteine. Eine virtuelle Illustration gibt einen Eindruck davon.
Abnehmerin ist die Farbenindustrie. Der gefällt die Abhängigkeit von der Neuschlößer Fabrik natürlich nicht – sie strebt deshalb eine Fusion an mit dem „Verein Chemischer Fabriken in Mannheim“, zu dem Neuschloß seit 1854 gehört. Doch der Vertrag kommt nicht zustande. Deshalb gründen die Farbenhersteller ihre eigene Fabrik – es ist die heutige BASF in Ludwigshafen.
Der langjährige Lampertheimer Stadtarchivar Hubert Simon stellt zusammenfassend fest:
„Sie wissen jetzt, dass noch heute ein ansehnliches Jagdschloss hier stehen könnte, wenn die Geschichte unserer Gegend nur einen ein klein wenig anderen Verlauf genommen hätte! Ebenso könnte sich möglicherweise hier in Neuschloß, aber auch in Lampertheim, vielleicht nahe am Rhein, eine chemische Fabrik von den Ausmaßen der BASF erstrecken.“
Im Jahr 1885 stellt die Chemische Fabrik die Produktion um auf Superphosphat für Kunstdünger; auch Natronlaugen und Salpetersäure entstehen.
Von den Bedürfnissen der Fabrik profitiert auch Lampertheim. Männer finden Arbeit in Neuschloß. Außerdem schaffen 30 bis 50 Lampertheimer „Schlossbauern“, wie der Volksmund sie nennt, mit ihren Ein- und Zweispänner-Fuhrwerken Rohstoffe vom alten Altrheinhafen heran – und Produkte sowie einen Teil der Produktionsreste umgekehrt zum Hafen. Der erlebt Anfang des 20. Jahrhunderts seine Hochphase; an der Brücke zum Biedensand („Bau“) verlädt gar ein Dampfkran die Güter.
Im Jahr 1893 entsteht etwas, was man heute gar nicht mehr für möglich halten würde: eine Bahnanbindung. Sie führt vom Lampertheimer Bahnhof über die Kuhtriftschneise (vorbei am heutigen Vogelpark) in den Wald, um dort in einem Bogen östlich nach Neuschloß abzubiegen. Auf dem Produktionsgelände verzweigen sich die Gleise, um direkt die zahlreichen Gebäude zu erreichen. Mit der Normalspurbahn kommen die Arbeiter nach Neuschloß, und gelegentlich fahren damit die Schulkinder nach Lampertheim. Vor allem aber transportiert sie Rohstoffe, Produkte und Abfälle – zum Leidwesen der „Schlossbauern“, die nur noch zwischen Hafen und Bahnhof fahren, bis sie endgültig von Lastwagen abgelöst werden.
Bergab geht’s nach dem Ersten Weltkrieg: Eine Anlage, die Sprengstoffe erzeugen kann, muss abgerissen werden. Es fehlen Kohle zum Heizen und die Rohstoffe Rohphosphat und Schwefelkies. Die Fabrik dümpelt dahin – und schließt im Jahr 1927.
Manche Häuser aus der Fabrikära gibt es noch heute in Neuschloß: kleine ehemalige Arbeiterhäuschen im Alten Lorscher Weg etwa. Und in schönem Kontrast daneben in einem großen Anwesen die Lampertheimer Revierförsterei – früher das Wohnhaus des Direktors der Chemischen Fabrik. Aus der Kantine wird das Restaurant an der Forsthausstraße, viele Jahrzehnte bekannt unter dem Namen „Zur Kurpfalz“, jetzt „Quattro Mori“. Der Marstall und die Scheune der alten Schlossanlage gehen mit der Fabrikschließung verloren.
Im Jahr 1936 ersteigert die Gemeinde Lampertheim den Beamtenbau und richtet darin neun Mietwohnungen ein. 2013 verkauft die Stadt das Gebäude an den Lampertheimer Architekten Franz-Rudolf Braun, der eine Kernsanierung vorantreibt. Auch er plant als vorwiegende Nutzung Wohnraum.